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Marie Luise von Halem spricht zum Antrag der CDU "Förderschulen als Bestandteil unseres Bildungssystems achten"

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- es gilt das gesprochene Wort -

Natürlich brauchen Förderschulen eine Perspektive. Wie wir alle: wenn wir morgens mit dem richtigen Fuß aufstehen, wollen wir wissen, wohin der nächste Schritt geht. Perspektive muss aber nicht Fortführung auf gleichem Niveau heißen, sondern kann auch schrittweisen Rückbau bedeuten. Und wenn wir auch einen Großteil dieses CDU-Antrages 1:1 unterschreiben könnten, so ist es das, was fehlt: ein eindeutiges Bekenntnis zum schrittweisen Umbau unseres Bildungssystems hin zu weniger Förderschulen und mehr Inklusion.

Warum brauchen wir eine inklusive Schule?

Erstens: Förderschulen fördern zu wenig. Insbesondere die Untersuchungen von Prof. Wocken belegen eindeutig, dass die Intelligenz- und Leistungswerte eines Kindes sinken, je länger es eine Förderschule besucht (Wocken 2005). Und das liegt – NB! - nicht an den mangelnden Qualitäten des Personals, sondern an der abwechslungsarmen Umgebung. Zweitens besteht wissenschaftlicher Konsens, dass Kinder ohne speziellen Förderbedarf bei inklusiver Beschulung und entsprechend individualisiertem Unterricht genauso gute Lernerfolge erzielen und gleichzeitig erheblich bessere soziale Kompetenzen. Drittens leuchtet ein, was mir ein skandinavischer Unternehmer einmal sagte: Natürlich würde er Menschen mit Behinderungen viel eher einstellen als jemand, der den Umgang mit diesen Menschen nie als selbstverständlich erlebt habe.

Bei einer Untersuchung der Inklusionsquoten in 29 europäischen Ländern steht Deutschland auf Platz 28: Weniger als 20 Prozent der Kinder mit Förderbedarfen werden inklusiv beschult. Der europaweite Anteil liegt bei 85 Prozent. Brandenburg liegt unter dem deutschen Mittelwert, wobei der Inklusionsanteil in der Kita erheblich höher ist als in der Sekundarstufe. Damit kommen wir zum Kern des Problems: in Brandenburg erreichen 95 Prozent der FörderschülerInnen keinen Hauptschulabschluss. Das sind diejenigen, die einen erheblichen Anteil der 11 Prozent ausmachen, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Das sind die VerliererInnen der Brandenburger Bildungspolitik, die unsere Unterstützung am nötigsten hätten. Und sie bräuchten weniger die im Antrag geforderte bundesweite Anerkennung von Förderschulabschlüssen, sondern vielmehr einen Hauptschulabschluss bzw. die Berufsbildungsreife!

Worauf müssen wir bei der Inklusion achten?

Erstens ist das A und O: KEIN ABSINKEN DER FÖRDERQUALITÄT! Das bezieht sich auf die personelle wie die sächliche Ausstattung und hat natürlich zur Folge, dass die Siebenmeilenstiefel im Schrank bleiben können. Aber feste Wanderstiefel sollten es schon sein!

Damit Integration gelingt, brauchen wir in ausreichendem Maß SonderpädagogInnen an Regelschulen, wir müssen schon in der Ausbildung die Lehrkräfte mit sonderpädagogischem Grundwissen ausstatten und allen anderen Lehrkräften Weiterbildung im laufenden Verfahren ermöglichen.

Zweitens: Es geht nicht nur darum, wie von der CDU gefordert, dass die Landesregierung mit den Schulträgern die Perspektiven der Förderschulen aufzeigt. Nein, es müssen vor allem die Betroffenen mit einbezogen werden: Schülerinnen und Schüler, Eltern, pädagogisches Personal, Vereine und Verbände. „Nichts über uns ohne uns" lautet die Maxime.

Aus diesen beiden zentralen Grundbedingungen ergibt sich, drittens, dass Förderschulen zumindest vorerst unverzichtbar sind. Denn vergessen wir nicht: Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichtet uns mitnichten zur Abschaffung der Förderschulen, sondern vielmehr für Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung bereit zu stellen, um ihnen Bildungserfolge zu ermöglichen. Der Wunsch der Betroffenen bzw. der sie vertretenden Eltern hat dabei höchste Priorität. Begreifen wir diese UN-Konvention als Chance, nicht nur für die Menschen mit Behinderungen, sondern für uns alle!

Was darf auf keinen Fall passieren?

PsychotherapeutInnen fragen ihre KlientInnen manchmal, was sie denn tun müssten, damit sie ihr Ziel auf keinen Fall erreichten - eine sogenannte paradoxe Intervention. Übertragen auf die vorliegende Fragestellung ist die Antwort folgende: Wenn Kinder mit besonderem Förderbedarf schon heute gemeinsam mit anderen unterrichtet werden, stehen ihnen zusätzliche Lehrkräftewochenstunden zu. Damit wird der im Rahmen des sonderpädagogischen Förderbedarfs notwendige Unterricht in Kleingruppen oder ggf. per Einzelförderung abgedeckt. Wenn, wie vielerorts in Brandenburg immer wieder berichtet wird, diese spezielle Förderung der Deckung von Vertretungsbedarf zum Opfer fällt, dann braucht sich niemand zu wundern, wenn die Angst vor inklusiver Beschulung unter den Betroffenen wächst. Da nimmt das Ministerium sehenden Auges in Kauf, dass diejenigen, die der Unterstützung am meisten bedürften, mal wieder am kürzesten Hebel sitzen.

Minister Rupprecht hatte zu Anfang der Legislaturperiode zur Chefsache erklärt, die Zahl der SchulabgängerInnen ohne Abschluss reduzieren zu wollen. Das genau täte man mit guter inklusiver Beschulung. Passiert ist wenig. Und jetzt geht wohl sogar der Anspruch unter der allradgetriebenen Macht der Sparbeschlüsse unter. Wir sind gespannt, mit wie viel PS die neue Ministerin Münch das Thema fährt.