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Axel Vogel zur Einsetzung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Gerade einmal fünf Monate sind seit der konstituierenden Sitzung des Landtages vergangen, der Sitzung, in der sich die Landtagsfraktionen erstmals nach 15-jähriger Unterbrechung für eine Überprüfung aller Landtagsabgeordneten durch die Stasi-Unterlagen-Behörde ausgesprochen haben, einer Sitzung, in der ich die Erwartung äußerte, dass das Thema Stasi mit der Überprüfung der Landtagsabgeordneten nicht abgeschlossen sein werde, und in der ich namens meiner Fraktion GRÜNE/B90 erstmals die Einrichtung einer Enquetekommission anregte.

Dieser Vorschlag veranlasste den Ministerpräsidenten Platzeck ausweislich des Plenarprotokolls zu dem Zwischenruf: „Das sind die Probleme dieses Landes.“ Gemeint war damit - getreu der bis dahin geltenden Devise -: Immer nur vorwärts, niemals zurück! Das blanke Gegenteil.

Seien wir doch ehrlich: Niemand konnte damals auch nur ansatzweise überblicken, welche Dynamik die Diskussion über frühere Stasizuträger in den Reihen der Linken, später auch der SPD und aktuell bei der FDP gewinnen sollte. Niemand konnte einschätzen, dass längst abgestreift geglaubte Begriffe aus den ersten Nachwendejahren - wie „der Brandenburger Weg“ oder „die kleine DDR“ - wieder medial präsent würden, dass der Ministerpräsident gezwungen sein würde, mit Ulrike Poppe nicht nur eine herausragende Vertreterin der Bürgerrechtsbewegung als Diktaturbeauftragte des Landes vorzuschlagen, sondern dieser zudem - entgegen der ursprünglichen Konzeption - weitgehende Unabhängigkeit in ihrem Handeln zuzubilligen.

(Görke [DIE LINKE]: Dazu brauchten wir Sie aber nicht!)

Niemand konnte voraussehen, dass das in Politik, Medien und Gesellschaft längst beiseite geschobene Thema „Aufarbeitung der Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur im Land Brandenburg“ plötzlich bundesweit Furore machen sollte. Eine Dynamik entstand, in der aus den ersten Ankündigungen der Oppositionsfraktionen zur Schaffung einer Enquetekommission ein gemeinsames Projekt von CDU, FDP und GRÜNE/B90 wurde, dessen Stoßrichtung und inhaltliche Ausgestaltung sich im Laufe des Erarbeitungsprozesses weiter qualifizierte und wandelte.

So steht heute nicht mehr die vordergründige Auseinandersetzung mit einzelnen Stasizuträgern im Mittelpunkt. Es reicht uns auch nicht, uns allein mit der Übernahme ehemaliger Parteifunktionäre und Systemträger in den öffentlichen Dienst des Landes zu beschäftigen. Gemeinsam wollen wir den Übergang in den demokratischen Rechtsstaat in den Blick nehmen, um daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Hier treffen wir uns heute mit den Regierungsfraktionen, die sich nach ursprünglicher Ablehnung heute mit dem Projekt identifizieren und nunmehr in ihrem Ergänzungsantrag „die Einsetzung einer Enquetekommission, die sich mit der Aufarbeitung
der Geschichte und der Überwindung der Folgen der SED-Diktatur 20 Jahre nach der Neugründung des Landes Brandenburg beschäftigt“, als besonders sinnvoll erklären. Hut ab!

Auch wir halten die in Ihrem Antrag skizzierte Untersuchung der strukturellen, repräsentativen und informellen Verhaltenskonsolidierung - wenn auch mit weniger geschraubt klingenden Worten - und die Untersuchung des Zustands der Bürgergesellschaft für richtig. Hier treffen wir uns.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie bei der Amtseinführung von Frau Poppe zu hören war, ist das Land Brandenburg das erste Bundesland, das sich nicht nur mit seiner DDRGeschichte, sondern auch mit der Aufarbeitung nach 1989 beschäftigen will: mit dem Übergang von der DDR in das neue Bundesland, mit den Fehlern und Versäumnissen, aber auch mit dem, was gut gelungen ist; Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit nicht für die Geschichtsbücher, sondern um Lehren daraus zu ziehen und Vorschläge zu erarbeiten, was wir künftig besser machen können, um das in den letzten Jahren geschwundene Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie wiederzugewinnen.

Viele von uns sind bereit, sowohl die eigenen Rollen als auch die Rolle unserer Parteien in der Aufbauphase dieses
Landes nach 1989 kritisch zu hinterfragen. Als Politiker dieses Landes müssen wir uns auch fragen, wo die im Jahr 1990 noch vorhandene Begeisterung für die Demokratie geblieben ist. Nahmen bei der ersten Volkskammerwahl noch 93 % der Bürgerinnen und Bürger ihr Wahlrecht wahr, pendelt bei Europa- und Landratswahlen die Wahlbeteiligung mancherorts deutlich unter der 20%-Marke.

Studien bescheinigen unseren Schülerinnen und Schülern gravierende Wissensdefizite über die DDR und die deutsche Teilung. Dabei geht es uns nicht um Faktenwissen, um Kenntnisse der Amtszeiten von Wilhelm Pieck oder Walter Ulbricht, sondern um den emotionalen Zugang zum Wissen um das Leben in einer Diktatur, um das Empfinden dafür, wie es ist, wenn die Entscheidungsmöglichkeiten im öffentlichen Leben drastisch reduziert sind, wenn der gesamte Staatsapparat - einschließlich der Schulen - ein System der Kontrolle und Gegenkontrolle perfektioniert, wenn jeder 80. Mitbürger bei der Staatssicherheit engagiert ist, um ein Gefühl, wie es sich in einer Diktatur lebt, einen Eindruck davon zu haben, wie Angst systemstabilisierend wirken kann, und warum es sich lohnt, die Demokratie zu leben und demokratische Grundrechte zu verteidigen. Das muss Lernziel sein.

In einer Rundfunksendung hörte ich letzte Woche: „Demokratie ist die einzige Herrschaftsform, die man erlernen muss. In einer Diktatur bekommt man seinen Platz zugewiesen. Da ist nicht viel zu lernen.“ - Ich möchte hinzufügen: Man muss einen emotionalen Zugang zu Demokratie erlernen. Dafür braucht es Vorbilder, und zwar am besten in der Familie, in der Schule und im Berufsleben. Aber was ist zu tun, wenn zu wenige Vorbilder vorhanden sind, wenn in der Familie DDR-Geschichte eher verklärt als erklärt wird?

(Zuruf von der SPD)

Die Erfahrung, die an den Küchentischen weitergegeben wird - so wusste schon Freud -, ist nachhaltiger als spätere Belehrung. Lehrerinnen und Lehrer, die sich nicht offen und selbstkritisch mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen, werden in ihren Klassen keinen Erkenntnisschub bewirken.

(Frau Wehlan [DIE LINKE]: Woher wissen Sie das?)

Allen Antragstellern ist bewusst, dass diese Enquetekommission die Bewältigung der Folgen der DDR-Geschichte in Brandenburg nicht in vollem Umfang aufarbeiten kann, sondern sich auf einzelne Themenfelder konzentrieren und fokussieren muss. Die im Erweiterungsantrag der Koalition geforderte umfängliche Prüfung, ob es gelungen sei, ein den spezifischen Voraussetzungen dieses Landes angemessenes zukunftsfähiges und nachhaltiges ökonomisches Modell zu entwickeln, mag zwar den marxistischen Grundsätzen entsprechen, wonach die materielle Basis den Überbau bestimmt,

(Görke [DIE LINKE]: Wahrscheinlich liegt das an der sozialen Intention, dass Sie es nicht verstehen können!)

aber muss das in einer Enquetekommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur untersucht werden?

Aufarbeitung bedeutet heutzutage nicht mehr die juristische Verfolgung von Straftaten. Aufarbeitung bedeutet auch nicht - wenn es denn überhaupt möglich wäre -, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Vielmehr bedeutet Aufarbeitung, sich damit auseinanderzusetzen, dass mit der Vereinigung nicht nur aus DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürgern Bundesbürgerinnen und Bundesbürger wurden, dass nicht nur die Menschen in all ihren privaten und sozialen Lebenszusammenhängen, sondern zugleich auch Strukturen und Mentalitäten aus der DDR in dieses neue Bundesland Brandenburg übergegangen sind. Aufarbeitung bedeutet auch, zu prüfen, welche Wirkmächtigkeiten diese Strukturen und Mentalitäten im Guten wie im Schlechten heute noch entfalten und wo gegebenenfalls gegengesteuert werden muss.

Ich denke, wir stimmen alle darin überein, dass Brandenburg heute über eine rechtsstaatlich verfasste Polizei verfügt. Wir alle vertrauen darauf, dass unsere Polizistinnen und Polizisten sich nicht mehr in der Tradition der Volkspolizei sehen und dass sich die ursprünglich mehr als 1 500 ehemaligen inoffiziellen Mitarbeiter und mehr als 200 hauptamtlichen Mitarbeiter in ihren Reihen zu aufrechten Demokraten entwickelt haben. Dennoch müssen wir uns fragen, wie es Opfern der staatlichen DDR-Gewalt geht, wenn sie heute ihren Peinigern von einst auf der Polizeiwache begegnen und welchen Beitrag wir zum Opferschutz heute noch leisten können und müssen.

Nur: Die Betroffenen bzw. die Benachteiligten der SED-Diktatur und vor allem auch diejenigen, die nach 1989 keine Chance hatten, gibt es bislang nur summarisch-abstrakt in Sonntagsreden. Auch hier wollen wir es konkret. Diesen Menschen hat dieses Land öffentlich die Würde, öffentlich ein Gesicht zurückzugeben. Es muss sowohl Orte als auch Erinnerungen und Achtung für sie geben, und zwar in Schulbüchern, in Gedenkstätten und im gesellschaftlichen Bewusstsein. Wenn das der Brandenburger Weg der Zukunft ist, dann werden wir vorn dabei sein.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, viele Jahre Schweigen des Landtages über die Folgen der SED-Diktatur im Land Brandenburg finden mit dem heutigen Tag ihr Ende. Vertuschungen und Verharmlosungen bestimmten lange Jahre das Bild. Mit der Enquetekommission wollen wir alle zusammen einen aufrechten, fairen und ehrlichen Umgang mit der SEDDiktatur, den Tätern, Opfern und Mitläufern finden. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit in der Enquetekommission ist kein Anliegen allein der Opposition mehr. Mit den heute vorliegenden Anträgen wird dokumentiert, dass dies zu unser aller Anliegen geworden ist. Ich denke, damit schreibt dieser Landtag ein Stück Zeitgeschichte. Wenn dieser Grundkonsens in der Arbeit der Kommission beibehalten wird, können wir und die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes stolz sein. - Recht herzlichen Dank.

(Beifall GRÜNE/B90, CDU und FDP)