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Marie Luise von Halem spricht zum Gesetzentwurf der AfD-Fraktion „Zur Änderung der Verfassung des Landes Brandenburg“

- Es gilt das gesprochene Wort!

[Anrede]

Ich bin als Kind von Kriegsflüchtlingen in Bayern aufgewachsen. Da mal zu einer Verabredung eine Viertelstunde zu spät zu kommen, gehörte fast zum guten Ton. Später lebte ich einige Jahre in Island. Wenn ich da eine Viertelstunde zu spät kam, war ich in der Regel die erste. Wenn die anderen eintrudelten, gab es Spott: „Klar, die Deutsche ist schon da. Die Deutschen sind ja so ordentlich und pünktlich!“ Natürlich habe ich mich ganz schnell angepasst! Jetzt lebe ich in Brandenburg und habe gelernt – auch wenn das schon in Berlin wieder anders ist! – dass punktgenaues Eintreffen bedeutet, in der Regel die Letzte zu sein.

Pünktlichkeit ist eine deutsche Tugend. Ja, aber warum erzähle ich das? – Um deutlich zu machen, dass solche Zuschreibungen von außen schnell kategorischer sind als von innen. Die Innenperspektive ist differenzierter.

Was ist eigentlich deutsche Kultur? Oktoberfest oder Kieler Woche? Oper oder Pokemon? Krapfen oder Berliner? Thomas Mann oder Fix & Foxi? Pappteller oder Silberbesteck? Budapester oder Birkenstock? Atheismus oder Religion (und wenn ja: welche?)? Fußball oder nicht? Halloween oder Sternsinger? Usw. - Es gibt keine deutsche Leitkultur!

Ja, „Leitkultur“ schon gar nicht, denn dieser Begriff impliziert ja eine normative Kraft: Es geht um Hierarchisierung abstrakter und schwer definierbarer Begriffe. Wer leitet wen? Alpenländisches Laissez-faire gegen preussische Genauigkeit? Und selbst wenn wir von „Kultur“ reden und nicht von „Leitkultur“, wird es nicht so viel einfacher.

Der Kanon unserer kulturellen Wertvorstellungen und Überzeugungen verändert sich. Neulich erzählte mir ein älterer Freund, seine Großmutter sei nie ohne Kopftuch aus dem Haus gegangen (in Deutschland, wohlgemerkt!), das habe sich nicht gehört. Das ist wahrscheinlich das, was im Gesetzentwurf der AfD eine „für moderne mitteleuropäische Frauen herabwürdigende Kleidungsvorschrift“ genannt wird, die es vor 20 Jahren nicht gegeben haben soll. Vor 20 Jahren vielleicht nicht, aber etwas früher sehr wohl. Natürlich hat unsere Kultur vor 20, 50 oder 100 Jahren anders ausgesehen als heute. In Zukunft wird sie sich genauso weiter verändern.

Das Liebäugeln der AfD mit der „deutschen kulturellen Identität“ interpretiert Jens Jessen in der ZEIT (online, 6.10.2016) deshalb folgerichtig: „[Sie] ist jedenfalls nicht als Beschreibung eines Zustands denkbar, sondern nur als Kampfziel – als kulturelle Gleichschaltung für den sozialen Frieden.“ Der daraus abgeleitete Hegemonieanspruch könne, so Jessen, „in unserer verwuselten, ungekämmten und struppigen – die Soziologen sagen: ausdifferenzierten - Gesellschaft nur den Ausblick auf den Bürgerkrieg eröffnen ...“

So, genug der Kritik der Unkultur.

Noch zwei weitere Gründe gegen den vorliegenden Gesetzentwurf will ich nennen: Erstens zur Klarstellung: Den Antragsteller*innen geht es ja explizit um die „deutsche“ Kultur. Der Schutz der Kultur ist unter den Grundsätzen der Brandenburgischen Verfassung (Art. 2, Abs. 1) nämlich schon verankert. Dort heißt es: „Brandenburg ist ein freiheitliches, rechtsstaatliches, soziales, dem Frieden und der Gerechtigkeit, dem Schutz der natürlichen Umwelt und der Kultur verpflichtetes demokratisches Land, ...“

Zweitens: Sie sollten sich schämen, dass Sie in diesem Gesetzentwurf dem Schutz der „deutschen Kultur“ das Wort reden, ohne unsere Brandenburger nationale Minderheit der Sorben und Wenden auch mit nur einem einzigen Wörtchen zu erwähnen!

Glauben Sie mir, auch ich finde nicht alles gut, was sich verändert hat in den letzten 20 Jahren. Die politische Kultur war jedenfalls erheblich erfreulicher, als Sie noch nicht da waren.