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V-Mann „Piatto“ – ein „offenkundiges moralisches Übel“ als „kleineres Übel“?

Brandenburgs früherer Verfassungsschutz-Vize Jörg Milbradt hat als Zeuge vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags den Vorwurf zurückgewiesen, dass seine Behörde der Thüringer Polizei entscheidende Informationen des V-Mannes „Piatto“ vorenthalten, damit die Ergreifung des untergetauchten Trios vereitelt und sich dadurch an der NSU-Mordserie mitschuldig gemacht habe. Diese Darstellung sei widerlegt, sagte Milbradt: „Dieser Vorwurf empört mich.“

Jörg Milbradt hat die brandenburgische Verfassungsschutzbehörde mit aufgebaut. Als er 1991 im Auswertungs-Referat angefangen habe, sei „kaum mehr als ein halbes Dutzend Leute“ für den Verfassungsschutz tätig gewesen, berichtete er dem Bundestags-Ausschuss am 19. Januar 2017. Damals gab es noch nicht einmal das Brandenburgisches Verfassungsschutzgesetz, weshalb der Verfassungsschutz – eine Abteilung des Innenministeriums – noch keine nachrichtendienstlichen Mittel einsetzen durfte. V-Leute waren folglich tabu.

Das Angebot des Untersuchungshäftlings Carsten Szczepanski

Kaum hatte sich das kraft Gesetz geändert, erreichte die Verfassungsschutzbehörde laut Milbradt im Juli 1994 das „Angebot des Untersuchungshäftlings Carsten Szczepanski, Informationen aus der rechtsextremistischen Szene zu liefern“. Er war Beschuldigter bezüglich eines „versuchten Mordes“. Milbradt, der damals das Auswertungsreferat leitete, betonte gegenüber dem Untersuchungsausschuss: „Aus diesem Grund wäre die Verfassungsschutzbehörde selbstverständlich niemals von sich aus auf Szczepanski zugegangen.“

Die Verpflichtung von solch einem Neonazi als V-Mann nannte Milbradt ein „offenkundiges moralisches Übel“. Aber: „Es wäre noch ein größeres objektives Übel gewesen, auf seine Dienste zu verzichten.“ Milbradts Fazit: „So fiel die Entscheidung zugunsten des kleineren Übels.“ Vernünftige Gründe für eine Zusammenarbeit hätten überwogen „und haben auch mich überzeugt“.

Innenminister holte sich Rat von einer moralischen Autorität

„Spätestens 1995“ sei der damalige Innenminister Alwin Ziel (SPD) von „Piattos“ Einsatz für die Verfassungsschutzbehörde informiert worden, sagte Milbradt. Jener habe den damaligen Vorsitzenden des „Zentralrats der Juden in Deutschland“, Ignatz Bubis, als „moralische Autorität“ zu Rate gezogen – und jener soll zum Einsatz „Piattos“ gesagt haben: „Ihr Brandenburger könnt nicht nur, Ihr müsst diese Quelle nutzen.“ Minister Ziel habe die Parlamentarische Kontroll-Kommission informiert und auch sie habe sich einverstanden erklärt, sagte Milbradt. Er hielt fest, dass die Verfassungsschutzbehörde „hohe Repräsentanten von Exekutive und Legislative beteiligt“ habe.

Mit den Arbeitsergebnissen von „Piatto“ zeigte sich Milbradt zufrieden. So habe das Verbot der „Kameradschaft Oberhavel“ im Jahr 1997 „zu wesentlichen Teilen“ auf Daten beruht, die der V-Mann geliefert habe. Auch in die Verbote der „Direkten Aktion Mitteldeutschland“ und der „Blood & Honour-Division Deutschland“ seien „Piatto“-Erkenntnisse eingeflossen.

Verfassungsschutz-Hilfe für polizeiliche Straftaten-Aufklärung?

„Erwähnt sei“, so Milbradt, dass die „Piatto“-Berichte den Verfassungsschutz in die Lage versetzt hätten, die Polizei auf Straftaten hinzuweisen. „Das trifft auch auf den NSU-Komplex zu.“ So hätten die Brandenburger Verfassungsschützer im Sommer 1998, wenige Monate nach dem Untertauchen des Jenaer Trios, das heute als „NSU“ bekannt ist, ihren Thüringer Kollegen ermöglicht, „Piattos“ Informationen zu den drei gesuchten Neonazis „in geeigneter Weise“ dem Landeskriminalamt Thüringen mitzuteilen. „In geeigneter Weise“ habe in diesem Fall bedeutet, „ohne einen Hinweis auf die Herkunft der Informationen“. So sei das ausweislich der Aktenlage auch auf mündlichem Wege geschehen, sagte der Zeuge. Ob das Landeskriminalamt die richtigen Schlüsse gezogen habe, „das steht auf einem anderen Blatt“.

Laut Milbradt liefen zum damaligen Zeitpunkt bereits polizeiliche Telefonüberwachungen gegen die sächsischen Rechtsextremisten Jan Werner und Antje Probst, die „Piatto“ als Trio-Unterstützer benannt hatte. Zudem seien sie observiert worden. Milbradt merkte an: „Für mich ist es deshalb nicht ersichtlich, welche operativen Maßnahmen die Informationen aus Brandenburg hätten noch auslösen können.“ Die These lautet folglich: Die Polizei hat schon alles Erdenkliche unternommen, um die mutmaßlichen Fluchthelfer zu überwachen, ehe die Information von „Piatto“ kam.

Im Jahr 2000 vor der Gefahr eines Rechtsterrorismus gewarnt

Kurz vor Abschluss seines Auftakt-Statements wies der pensionierte Verfassungsschützer darauf hin, dass der brandenburgische Verfassungsschutz in seinen Jahresberichten 2000 und 2001 vor der Gefahr eines Rechtsterrorismus in Deutschland gewarnt habe. Im Jahr 2004 ist Jörg Milbradt als stellvertretender Behördenleiter in den Ruhestand gegangen.

Bevor Ausschuss-Vorsitzender Clemens Binninger (CDU) seine erste Frage an den Zeugen richtete, stellte er klar, dass er trotz Milbradts Ausführungen bei seiner folgenden Bewertung bleibe: Eine Verfassungsschutzbehörde, die eine des Mordversuchs beschuldigte und später verurteilte Person als V-Mann anwerbe, „überschreitet für mich eine rote Linie“. Das hatte Binninger im Dezember 2016 auch als Sachverständiger vor dem brandenburgischen NSU-Untersuchungsausschuss gesagt.