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Neonazis als V-Leute: Ist Vertrauen gut, wenn Kontrolle nicht möglich ist?

Die Kontrolle von V-Leuten der Verfassungsschutzbehörden sei ein „nicht gelöstes Problem“, sagte der Politikwissenschaftler Prof. Hajo Funke am 18. November 2016 im brandenburgischen NSU-Untersuchungsausschuss auf Nachfrage der bündnisgrünen Obfrau Ursula Nonnemacher. Es handle sich um eine „so gravierende Problematik“, betonte Funke, „dass ich immer skeptischer werde, dass der V-Leute-Einsatz rechtsstaatlich erträglich gestaltet werden kann“.

Verfassungsschutzbehörden insgesamt bedürften einer systematischen Kontrolle, forderte der Sachverständige. Was der Bundestag bezüglich des Bundesamtes für Verfassungsschutz mache, reiche nicht aus. Und so lange es „eine Mentalität der Geheimhaltung und nicht der Kontrolle“ gebe, „rate ich von V-Leuten ab“, sagte Funke. Sie seien „oft ein Teil des Problems und nicht der Lösung“.

V-Personen des Verfassungsschutzes aus Sicht des Bundeskriminalamtes

Das Bundeskriminalamt hat sich bereits am 3. Februar 1997 in einem Papier „kritisch mit dem Einsatz von V-Personen der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern auseinandergesetzt“. Das berichtete Privatdozent Gideon Botsch vom „Moses Mendelssohn Zentrum“ der Universität Potsdam als weiterer Sachverständiger. Das BKA werfe darin die Frage auf, „ob bestimmte Aktionen oder innovative Aktivitäten dieser Quellen überhaupt in der späteren Form stattgefunden hätten“, wenn sie nicht für den Verfassungsschutz tätig geworden wären.

Gerade für die Zeit von 1996 bis 1999 stelle sich die Frage, „welche Rolle die beteiligten Nachrichtendienste spielten“. Damals seien nämlich neue organisatorische Strukturen und Netzwerke in der rechtsextremistischen Szene aufgebaut und schwere Gewalttaten bis hin zum Terrorismus vorbereitet worden seien. Botsch sprach von einer „proto-terroristischen Latenz-Phase“. An entscheidenden Positionen „begegnen uns immer wieder Aktivisten, die nach heutigem Kenntnisstand als V-Personen tätig waren“.

Die Rolle der V-Leute bei der Radikalisierung im rechtsextremen Lager

Im Land Brandenburg sei der Verfassungsschutz-V-Mann „Piatto“ die auffälligste Person in dieser Hinsicht, sagte Botsch. „Wir müssen aber befürchten, dass auch in anderen Zusammenhängen V-Leute an maßgeblicher Position beteiligt waren, als sich das rechtsextreme Lager in dieser Phase regenerierte und radikalisierte.“ Das gelte etwa für das Neonazi-Netzwerk „Blood & Honour“, die Kameradschaften, den Verein „Die Nationalen“, die „Heimattreue Deutsche Jugend“ (HDJ) und „andere, die stabile Strukturen aufbauten“, wo zuvor keine oder keine mehr bestanden hätten.

Jenseits der Frage, ab welchem Moment Quellenschutz zu „Täterschutz“ werde oder die Aufklärung des hochkriminellen NSU-Komplexes behindere, könnten das Innenministerium beziehungsweise die Verfassungsschutzbehörde ohne Verlust wichtige Fragen beantworten, erklärte Botsch. „Nach meiner Auffassung muss im Mittelpunkt die Frage stehen, warum Nachrichtendienste sich Mitte der 1990er-Jahre dafür entschieden haben, offenbar systematisch V-Leute an Positionen einzusetzen, wo es keine relevanten extremistischen oder terroristischen Strukturen mehr gab und teilweise auch nie gegeben hat. Dies geschah nämlich, ob beabsichtigt oder nicht, in einer Weise, dass diese V-Leute letztendlich maßgeblich Anteil hatten, entsprechende Strukturen erst zu schaffen.“

Gefahrenabschätzung auf Basis öffentlich zugänglicher Quellen

Botsch verwies auf Spezialistinnen und Spezialisten abseits der Nachrichtendienste, nämlich aus Journalismus und Wissenschaft sowie aus dem Präventionsbereich und der Zivilgesellschaft, die mittels Erkenntnissen aus öffentlich zugänglichen Quellen zu einer Gefahrenabschätzung gekommen seien. Er erwähnte beispielsweise das Buch „Drahtzieher im braunen Netz“ eines antifaschistischen Autorenkollektivs, den Verein „Opferperspektive“ in Brandenburg, den „Tagesspiegel“-Autor Frank Jansen und seinen Sachverständigen-Kollegen Hajo Funke.

Mehr polizeilicher Staatsschutz, weniger nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz?

Funke forderte als Sachverständiger, dass sozialwissenschaftliche Analysen, die Arbeiten von investigativen Journalisten und antifaschistische Rechercheergebnisse stärker in die behördlichen Analysen zum Thema „Rechtsextremismus“ einbezogen werden müssten. Abgesehen davon würde er aufgrund des Versagens von Verfassungsschutzbehörden manche Aufgaben lieber beim polizeilichen Staatsschutz ansiedeln als bei einem Nachrichtendienst. Die Polizei unterliege einer „justiziellen Kontrolle“, begründete er – und das mache auch eine öffentliche Kontrolle möglich.

Der brandenburgische Generalstaatsanwalt Prof. Erardo Cristoforo Rautenberg, ein weiterer Sachverständiger des Untersuchungsausschusses, erklärte: Die Kontrolle von V-Leuten in verfassungsfeindlichen Strukturen sei „faktisch nicht möglich“. Rautenberg bekannte: „Ich persönlich bin ein Gegner des V-Mann-Wesens.“

„Einer muss sich anwerben lassen“ – damit der Staat nicht nervös wird

Der investigative Journalist Dirk Laabs, ein vierter Sachverständiger, berichtete von folgender Einschätzung aus der rechtsextremen Szene: Der Staat werde erst da nervös, wo er nicht mit V-Leuten vertreten sei. Strategisch bedeute das für Neonazis: „Einer muss sich anwerben lassen.“